Medienspiegel Langnau Jazz Nights 2015 - page 16

Medienspiegel
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Auflage: 50 000
Kultur
Tom Gsteiger
In Anlehnung an die halbschlauen The-
sen des britischen Snobs Stuart Nichol-
son wird in Europa in gewissen Kreisen
seit ein paar Jahren herumerzählt, der
amerikanische Jazz sei im Niedergang
begriffen. Die Festivalleitung der
Langnau Jazz Nights glaubt zum Glück
nicht an dieses Ammenmärchen – und
so hat man auch heuer wiederum einige
Top-Acts und Top-Cats aus Übersee ins
Emmental gelockt. Bisher haben die
grossen Namen nicht enttäuscht – ganz
im Gegenteil: Sie haben sehr grosse Wir-
kung entfaltet. Branford Marsalis gelang
ein besonders beeindruckendes Kunst-
stück: Er trug eine langweilige Krawatte
und spielte trotzdem das Gegenteil von
bravem «Krawatten-Jazz».
Mit seinen treuen Weggefährten Joey
Calderazzo (Klavier), Eric Revis (Bass)
und Justin Faulkner (Schlagzeug) unter-
nahm der fabulös-imposante Saxofonist
Marsalis während beinahe zwei Stunden
einen atemberaubenden und abwechs-
lungsreichen Streifzug durch die halbe
Jazzgeschichte, wobei sich Eigen- und
Fremdkompositionen in etwa die Waage
hielten und das emotionale Spektrum
von Schwermut bis Übermut reichte. Es
gab etliche Passagen, in denen die Span-
nung kaum noch zum Aushalten war
und trotzdem noch weiter gesteigert
wurde. Ah! Oh! Aha! Oho! Uiuiui!
Mit Swing ins Paradies
Seiner Heimatstadt New Orleans erwies
Marsalis mit einer hymnischen Version
des legendenumwobenen Songs «St. Ja-
mes Infirmary» die Reverenz (vor Marsa-
lis hatten dieses Stück u. a. Louis Arm-
strong, Erroll Garner, Archie Shepp, Ja-
nis Joplin und Van Morrison interpre-
tiert). Die Swing-Ära kam mit Duke El-
lingtons «It Don’t Mean a Thing If It Ain’t
Got That Swing» und Irving Berlins
«Cheek to Cheek» zum Zug (wer bei die-
sen wunderbaren Songs zuerst an Lady
Gaga und Tony Bennett denkt, ist selbst
schuld).
Die grösste Überraschung in Marsalis’
Repertoire war Keith Jarretts «The
Windup» vom bahnbrechenden ECM-
Album «Belonging», das Jarrett 1974 mit
Jan Garbarek, Palle Danielsson und Jon
Christensen in Oslo aufnahm. Aus über-
triebenem Respekt wagt sich kaum je-
mand an die Stücke des genialen Nar-
zissten heran: Marsalis & Co. liessen sich
hingegen nicht einschüchtern, sondern
steigerten sich in dieser Nummer in
einen veritablen Spielrausch mit teil-
weise verrückt-verzückten Zügen hin-
ein.
Als Buckshot LeFonque hat Marsalis
vor vielen, vielen Jahren in populisti-
schen Hip-Hop-Gefilden gewildert, in-
zwischen hat er aber gemerkt, dass ihm
mit der eigenständigen Anverwandlung
der Jazz-Tradition weitaus stärkere
Statements gelingen: Indem er wie der
Teufel swingt, kommt er näher ans Para-
dies heran. Seine Botschaft lautet: Man
muss den Jazz nicht neu erfinden, son-
dern seine Flamme am Lodern halten,
damit alles gut kommt. Und dies gelingt
nach wie vor am beeindruckendsten,
wenn man nicht von einem Projekt zum
nächsten hetzt (hetzen muss), sondern
über Jahre an der Band-Chemie arbeitet
(arbeiten kann).
Nicht nur in dieser Hinsicht hat die
holländische Saxofonistin Tineke
Postma noch sehr viel Arbeit vor sich:
Ihrem Quartett kam die zweifelhafte
Ehre zu, als Vorband für Marsalis aufzu-
treten. Das war ein bisschen so, als
würde der FC Breitenrain gegen den FC
Barcelona antreten müssen.
Bad Plus plus Pluspunkt
Um eine seit vielen Jahren viel beschäf-
tigte Band handelt es sich auch beim
Trio The Bad Plus, das erstmals vor vier
Jahren in Langnau auftrat. Nun haben
sich der Pianist Ethan Iverson, der Bas-
sist Reid Anderson und der Schlagzeu-
ger David King mit dem Saxofonisten
Joshua Redman zusammengetan: Das
Resultat ist kein Trio mit Gast, sondern
ein neues Quartett, das sinnigerweise
The Bad Plus Joshua Redman heisst.
Auch im Quartett will man nicht
ganz auf den Flirt mit dem Zeitgeist
verzichten (inklusive prätentiöse Ar-
rangements und Stücktitel), doch alles
in allem bekennt man sich beherzter
zur einer interaktiven und ungebärdi-
gen Jazz-Ästhetik – man findet also öf-
ter von der ironischen Post-Moderne in
die ernsthafte respektive ekstatische
Moderne zurück. Schliesslich sind die
Typen von The Bad Plus bekennende
Das Imperiumschlägt zurück
Die tollkühnen US-Sax-Stars Branford Marsalis und Joshua Redman habenmit ihremAuftritt
an den Langnau Jazz Nights für Begeisterungstürme gesorgt.
Flirt mit demZeitgeist: Der Saxofonist Joshua Redman beimAuftritt mit seiner Band The Bad.
Foto: Christoph Graf (foto-graf.ch)
Adelle Waldman hat mit
«Das Liebesleben des
Nathaniel P.» in n Roman
über den ratlosen Mann von
pizza. Alle paar Monate ringt er sich
dazu durch, eine mexikanische Putzfrau
zu bestellen, wenn der Gestank sein
schlechtes Gewissen übersteigt.
Für knausrige Literaturzeitschriften
liegen, es ging bloss um den Ton. Aber
im Augenblick war ihm das egal.» Ist ein
Mensch, der Konventionen ignoriert
und in Kauf nimmt, andere vor den Kopf
zu stossen, brutal und hartherzig? Oder
ein Altruismus aussieht, könnte mit
demselben Recht das Gegenteil sein.
Denn wer nicht stören will, will auch
nicht gestört werden. Und sich schon
gar nicht auf jemanden einlassen.
Der Sittenroman einer sittenlosenWelt
BranfordMarsalis
Botschaft lautet:
Manmuss den Jazz
nicht neu erfinden,
sondern seine Flamme
amLodern halten,
damit alles gut kommt.
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