Medienspiegel Langnau Jazz Nights 2015 - page 12

Medienspiegel
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Auflage: 7 500
J A Z Z ‘ N ‘ MO R E
R E V I E W S
Kein anderes Sommerfestival bringt eine so
geballte Ladung hochkarätiger Jazzmusiker
in die Schweiz wie die Langnau Jazznights
– Stars der New Yorker Szene wie Dave Hol-
land, Branford Marsalis oder Christ Potter
ebenso wie einige Musiker, die es in der
Schweiz erst noch zu entdecken gilt.
Auf den überraschenden Festivalhöhepunkt musste
man dieses Jahr aber trotzdem bis zum letzten
Abend warten. Transient Universe heisst ein Quin-
tett, das es eigentlich gar nicht gibt. Der Bassist
Scott Colley, der dieses Jahr die Lehrer-Crew für die
parallel zum Festival stattfindenden Wokshops zu-
sammengestellt hat, hat gleichsam nebenbei mit
diesen Lehrern eine Ad-Hoc-Band auf die Beine ge-
stellt, die es mit jeder amerikanischen Top-Band
aufnehmen kann. Er hat dafür einige prägnante
Kompositionen geschrieben, die bei aller Raffinesse
alles andere als verkopft klingen. Vor allem aber
begeisterten die fünf aufgestellten Teachers durch
ihre unbändige Spielfreude, mit der sie zeigten, was
sie so alles draufhaben.
Colley, einer der gefragtesten New Yorker Bassisten,
gibt mit dem Schlagzeuger Nate Smith eine brillant
agierende, kraftvolle Rhythmusgruppe ab, welche
richtig Gas geben kann, die Solisten bei Bedarf aber
auch auf sanften Flügeln durch die Balladen trug.
Eine Überraschung ist dabei der erst 28-jährige Ju-
lian Lage, ein Gitarrist, der nicht die ausgetretenen
Pfade aller vereinigten Schnellfinger geht, sondern
eine ziemlich eigenwillige Melodik entwickelt hat:
Er bricht seine fliessenden Melodielinien immer wie-
der mit abrupten Wechseln und schroffen Brüchen
auf, ohne dass man das Gefühl bekommt, er puzzle
bloss irgendwelche disparaten Melodiefragmente
zusammen. Die eigentliche Überraschung aber war
der 41-jährige dänische Saxophonist Benjamin Kop-
pel, ein quirliger Improvisator, der fast ganz ohne
Klischees auskommt, seine unverbrauchten Melo-
dielinien mit schon fast unverschämter Leichtigkeit
und Eleganz über die dichte Rhythmik von Colley
und Smith legt.
Auf der anderen Seite des Spektrums muss man das
Quartett des grossen Bassisten Dave Holland als
Enttäuschung verbuchen. Sicher, die vier Spitzen-
musiker lieferten ein untadeliges Konzert: alles
stimmte, alles passte, die Kompositionen waren ein
wenig funkiger als sonst schon mal, zwar nicht gera-
de aufregend, aber doch auch nicht banal, kurz
sauberes Handwerk. Und trotzdem: So uninspiriert,
so routiniert, so ohne jedes Feuer hat man Holland,
den Saxophonisten Chris Potter und den Schlag-
zeuger Eric Harland noch selten gehört. Sie spulten
ihr perfekt einstudiertes Programm gleichsam mit
eingeschaltetem Autopiloten ab. Ihre Finger mach-
ten fast ohne jedes Zutun alles richtig, wie vermut-
lich seit Jahren jeden Abend. So richtig begeistern
konnte dieser Auftritt nicht.
Etwas weniger enttäuschend war der Auftritt des
Saxophonisten Branford Marsalis, auch er einer der
überragenden Stars der New Yorker Mainstream-
Szene. Er brachte, natürlich, mit dem Pianisten Joey
Calderazzo, dem Bassisten Eric Revis und dem
Schlagzeuger Justin Faulkner drei hochkarätige und
topvirtuose Mitmusiker mit. Und gewiss faszinierten
40. Langnau Jazznights – ein Sommerhit, 21.7 – 25.7.2015
Auch sie improvisiert wie Koppel ganz ausser-
halb der gängigen Routine der Coltrane- und Post-
coltrane-Schulen mit ihren zuweilen testosteronge-
steuerten Runs; vor allem auf dem Sopransaxophon
findet sie mit ihrem leichten, geschmeidigen Ton
wunderbar verspielte Melodien mit originellen Dre-
hungen und Wendungen. Schade bloss, dass ihr
European Quartet dem Niveau der Leaderin nicht
ganz gewachsen war.
Viel Dampf und fröhlichen Lärm machte zu Beginn
des Festivals Snarky Puppy, ein Oktett aus Brooklyn,
mit einer funkigen Fusion-Mixtur. Eine zuweilen et-
was gar einfach konzipierte Musik, die vor allem auf
Groove, Drive und Partyfeeling abzielt. Und tatsäch-
lich lässt es die Rhythmusgruppe gehörig krachen;
solistisch geben die beiden Bläser und die beidern
Keyboarder nicht extrem viel her.
Dass man auch in dieser Mischzone neue, aufre-
gende Musik machen kann, führte am Ende des
Festivals einmal mehr der 37-jährige Pianist Robert
Glasper mit seinem Trio vor. Sein musikalischer
Crossover vermischt perlenden Jazz mit Neo-Soul,
Funk, Rap und Hip-Hop. Aber selbst wer Hip-Hop
pur wie der Schreibende zum Sterben langweilig
findet, kann sich durch Glaspers eigenwilligen Um-
gang mit der schwarzen Popmusik begeistern las-
sen. Denn Glasper integriert all diese Einflüsse zu
einer eigenwilligen, komplex komponierten, viel-
schichtigen und vielfarbig schillernden Klaviermu-
sik. Bester zeitgenössischer Jazz ohne stilistische
Scheuklappen. Langnau bleibt auch in seinem 40.
Jahr das attraktivste Schweizer Sommer-Jazzfesti-
val.
Christian Rentsch
seine und Calderazzos Technik, ihre stupende Virtu-
osität und Meisterschaft. Der Drummer Faulkner
gehört, wie übrigens auch Nate Smith, zu jenen
jüngeren Schlagzeugern, die sich längst nicht mehr
als Timekeeper verstehen, sondern eine eigene star-
ke Rolle spielen wollen, die Solisten mit einem pau-
senlosen Powerplay vor sich hertrommeln und an-
feuern. Das Marsalis Quartet ist durch und durch
amerikanisches Showbusiness, stromlinienförmig,
ohne Ecken und Kanten, selbst die Ansagen sind so
perfekt einstudiert wie die ganze Musik.
Joshua Redman, auch er einer der hochgelobten
New Yorker Saxophonmafia, profitierte vor allem
vom "coolen" Trio Bad Plus, mit dem er eine schöne
CD aufgenommen hat und diesen Sommer unter-
wegs ist. Die Gruppe um den Bassisten Reid Ander-
son und den Pianisten Ethan Iverson hat sich ziem-
lich weit entfernt vom "klassischen" Pianotrio, nicht
nur, weil sie zuweilen originelle, harmonisch nach-
gebesserte Coverversionen von Popsongs spielen,
sondern vor allem durch ihre Art von Kollektivspiel,
die weitgehend verzichtet auf die klassische Rol-
lenverteilung (virtuoser Vorturner plus zwei blasse
Begleiter) zugunsten gemeinsam improvisierter
Spannungsbögen. Für Redman, einen hochversier-
ten, aber doch eher konservativen Improvisator, ei-
ne echte Herausforderung, die er allerdings brillant
löste.
Eine weitere Überraschung bot die 37-jährige hol-
ländische Saxophonistin Tineke Postma, die seit
Jahren auch in den USA lebt und dort mit so promi-
nenten Musikerinnen zusammenspielte wie Geri Al-
len, Terri Lyne Carrington oder Esperanza Spalding.
28. Toronto Jazz Festival, 18. – 29.6.2015
Das Toronto Jazz Festival steht seit Grün-
dertagen im Schatten des Festivals in Mont-
real. Völlig zu Unrecht. Denn das Festival
inszenierte, wie jedes Jahr, Jazz in der gan-
zen Stadt:
Mit grossen Namen, wie Jamie Cullum, Tower of
Power, Al Di Meola, Al Jarreau oder Gary Clark jr., in
den grossen Sälen. Mit spannenden, gerade durch-
startenden Künstlern (wie etwa Snarky Puppy) in ei-
nem Zelt mitten in der Stadt und auch mit Gratis-
Aussenveranstaltungen für jedermann. Dazu stellte
man Bühnen in Einkaufszentren, in Bars, Restau-
rants, in eine alte Schnapsbrennerei oder in Kirchen.
Die aus Brooklyn angereiste Riesencombo Snarky
Puppy brannte im Zelt am zentralen Nathan Philips
Square ein Funk-Rock-Jazz-Feuerwerk allererster
Güte ab. Das Publikum machte daraus eine Mega-
Band vor Schweiss schon triefte. Snarky Puppy ist
auch ein wundervolles Beispiel für die Entwick-
lungsarbeit des Festivals. Anfangs spielten sie vor
einer Handvoll Leuten. Über die Zeit erspielten sie
sich ihr Publikum, das inzwischen in die Tausende
geht.
Mit grosser Spannung warteten alle auf die Ab-
schlussveranstaltung in der legendären Rex Jazz &
Blues Bar (die an manchen Tagen mit drei Konzer-
ten hintereinander aufwartet). Dort versammelte der
künstlerische Leiter des Jazz Festivals, Josh Gross-
man, das 17-köpfige Toronto Jazz Orchestra mit
dem quirligen Sänger Alex Samaras an der Front.
Jedes Jahr the same procedure as every year. Die-
ses Jahr waren bereits zum sechsten Mal Stücke
von Radiohead das Ausgangsmaterial für die aus-
gefeilten und oft überraschenden Arrangements des
auf den letzten Platz gefüllt. Ganz grosses Kino war
die Aufführung des kompletten, bahnbrechenden
Albums ”OK Computer". Dabei erwiesen sich die
Radiohead-Kompositionen als grandioses Material
für ein Jazzorchester. Einfach faszinierend und ein
musikalischer Hochgenuss.
Franz X.A. Zipperer
Benjamin Koppel
Tineke Postma
FOTOS: CHRISTOPH GRAF/
©
FOTO-GRAF.CH
X.A. ZIPPRER
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