Medienspiegel Langnau Jazz Nights 2022

29 Kultur & Gesellschaft Dienstag, 2. August 2022 Martin Burkhalter Zuerst wirkt sie etwas kühl, ja distanziert, wie sie da auf der Bühne steht und richtiggehende Altsaxofon-Schreie in den Raum hinausbläst. Mit ihrem weissen Blazer, den goldenen Hosen und der exzentrischen Brille erinnert sie ein bisschen an Miles Davis mit seinen schrillen Outfits damals in den 1970er-Jahren. Aber lange wird es nicht dauern, bis Lakecia Benjamin alle um den Finger gewickelt hat. Die Distanziertheit – sie ist nur Konzentration. Schon das erste Stück, John Coltranes «Liberia» vom Album «Coltrane’s Sound» von 1964, wird zum wabernden, funkelnden Körper, der sich immer weiter ausbreitet – bis in die hintersten Ecken der Langnauer Kupferschmiede. Die Grössten der Grossen Dank den Jazz Nights haben in den letzten dreissig Jahren die Grössten der Grossen des Jazz ihren Weg ins Emmental gefunden. 2019 etwa gab der über 80-jährige Bassist Ron Carter hier ein unvergessliches Konzert. Mit Lakecia Benjamin ist nun eine Musikerin in die Kupferschmiede gekommen, die in den USA längst zu den führenden Figuren einer neuen Generation ungemein vielfältiger, mutiger und starker Instrumentalistinnen des Jazz gehört. Die gebürtige New Yorkerin, die schon mit Prince, Stevie Wonder und etwa The Roots gearbeitet hat, mischt in ihren fiebrigen Improvisationen und Kompositionen stets auch Soul, Funk, R ’n’ B. Inzwischen hat die 40-Jährige drei Alben als Bandleaderin veröffentlicht. Für ihr drittes Werk ist sie ein Wagnis eingegangen, eines, das man ihr hoch anrechnen kann. Es heisst «Pursuance: The Coltranes» und vereint ein Dutzend neu interpretierte Kompositionen von Alice und John Coltrane. Damit ehrt sie das Werk von zwei der einflussreichsten Jazzmusikerinnen und -musiker des 20. Jahrhunderts. Während John Coltrane geradezu kultisch verehrt wird, wurde seine Frau, die Pianistin, Harfenistin und Komponistin, lange Zeit eherwenig wahrgenommen. Das kann auch damit zu tun haben, dass sie nach dem Tod ihres Mannes 1967 nur noch etwa fünf Jahre Musik komponierte. Für das Album hat Benjamin eine generationenübergreifende Starbesetzung zusammengestellt, unter anderem Dee Dee Bridgewater, Ron Carter, die Last Poets, Meshell Ndegecello und Greg Osby. Nach Langnau gekommen ist sie nun mit einem vorzüglichen, energetischen Quartett: Victor Gould am Piano, E. J. Strickland am Schlagzeug und dem Bassisten Ivan Taylor. Die vier sind seit Monaten auf Europatournee und jetzt offenbar äusserst zufrieden, im Emmental ein wenig rasten zu können. Sie sei sehr glücklich, hier zu sein, meint Lakecia Benjamin nach dem wabernden «Liberia»- Intro. Sie komme gerade aus Paris. Hier in Langnau sei einfach alles besser: die Luft, das Essen, die Landschaft, das Hotel und, ja, auch die Leute, sagt sie und lässt damit gleich jegliches Gefühl der anfänglichen Distanziertheit verfliegen. Im Coltrane-Universum Die sympathische Frau lässt es in der Kupferschmiede gar etwas familiär werden. Es ist, als sitze man in ihrem Wohnzimmer und lasse sich von ihr durch das spirituelle, melancholische und energetische Coltrane-Universum führen. Die Reise beginnt mit einem hemmungslosen «Syeeda’s Song Flute» von John Coltranes «Giant Steps» aus dem Jahr 1960 und geht über in Alice Coltranes Bluesballade «Turiya and Ramakrishna», welche zur dunkelblauen Betörung mit hellen Altoschreien wird. So geht das hin und her – von John zu Alice und zurück. Benjamin lässt sich von der Band tragen, tanzt mit ihrem hellen Altsaxofon wie auf einem Vulkan, spielt ausserordentlich leichtfüssig, temporeich, hoch konzentiert und manchmal, vielleicht, etwas zu abgeklärt. Ihre Versionen sind oft mehr ein Kitzeln als ein Kratzen, dabei aber durchaus kraftvoll. Gerade das sehr bekannte «My Favorite Things» vom gleichnamigen Album von 1961 lässt sie absichtlich etwas zerfleddern und verleiht dem Song dadurch einen eigentümlichen, nicht unsympathischen Punk-Einschlag. Alice Coltranes Version von «Walk with Me» wird zum elegischen, zarten, souligen Geflüster. So reduziert, im Quartett, sind die Interpretationen, anders als auf dem Album, jedoch meist nahe an den Originalen. Da gibt es keine Hip-Hop- oder FunkAusschweifungen. Lakecia Benjamin verschmilzt die so unterschiedlichen Welten von Alice und John Coltrane zu etwas Eigenem in frischen, frechen Farben. Johns Kompositionen nimmt sie die Schwere, Alices Songs die Süsslichkeit. Der Abend in der Kupferschmiede findet in einer kernigen Suite aus «Alabama» (Live at Birdland, 1963) und «Acknowledgemt» (A Love Supreme, 1965) ein bewegendes Finale. Coltrane mit einem Schuss Punk Jazz Nights Langnau Die aufstrebende Saxofonistin Lakecia Benjamin interpretiert auf ihrem neuen Album Kompositionen von Alice und John Coltrane neu. In Langnau gab sie ein begeisterndes Konzert. Es gibt etwas zu feiern: Henri und Gabrielle Corbaz begehen ihren siebzigsten Hochzeitstag, die Gnadenhochzeit. Einer ihrer Enkel, Marc-André Stierli, lädt die Familienmitglieder im Juni 1984 an den Hauptsitz des Bankinstituts Golbet & Stierli ein. Die elegante Villa liegt auf dem Plateau von Champel im Herzen Genfs. Vier Generationen begegnen sich, und es bereitet Kopfzerbrechen, die vierundzwanzig Gäste an der Festtafel so zu platzieren, dass unangenehme Reibereien vermieden werden. Denn zwei völlig verschiedene Welten stossen aufeinander: hier die Romands aus der gehobenen Bourgeoisie der Bankenwelt, dort die Deutschschweizer mit ländlicher Herkunft. Zudem sind bisher, wie es zu einer schillernden Familiensaga gehört, etliche Tatsachen verschwiegen worden: Zwist, politische Verstrickungen, Seitensprünge, homosexuelle Neigungen, aussereheliche Kinder. Ein Stoff von epischen Dimensionen breitet sich hier aus, der nach einem opulenten Roman geradezu ruft. Artur K. Vogel, früherer «Bund» -Chefredaktor und mittlerweile Autor mehrerer Romane, legt mit «Gnadenhochzeit» eine fiktive Familiengeschichte vor, die sich über fünf Generationen erstreckt und einen Zeitraum von nahezu hundertvierzig Jahren umfasst. Vitale Frauengestalten Ein wahrer Bilderbogen zieht an der Leserschaft vorbei, wichtige politische Ereignisse akzentuieren die privaten Schicksale. Eine üppige Anzahl an Figuren, die wir von der Geburt bis zum Tod begleiten, taucht auf und verschwindet wieder. Eine solche Romananlage wirkt sich naturgemäss auf die Lektüre aus. Erst einmal verwirrt der grosse Personenbestand; man greift immer wieder zum Stammbaum im Anhang, um sich orientieren zu können, zumal es sich auf den väterlichen wie auf den mütterlichen Seiten um kinderreiche Clans handelt. Man wappne sich daher mit Geduld, aber im Verlauf der Lektüre wird man sich nicht nur besser zurechtfinden, sondern auch dem Sog der Saga kaum entweichen können. Artur K. Vogel entwickelt seine Geschichte auf der Basis von hinterlassenen Tagebüchern und Korrespondenzen der Familienangehörigen, aber auch aufgrund von Erinnerungen der Gäste, die in der Erzählgegenwart an der Festtafel sitzen. Diese Elemente werden geschickt montiert, sodass die Handlung, in fünf Teile gegliedert, ohne weiteres vorankommt. Am Ende schliesst sich eine jahrzehntelange Kluft zwischen dem feiernden Jubilar und einem seiner Schwiegersöhne mit einer Geste der Versöhnung. Dieses Finale, diskret gesetzt, verscheucht auch einige Vorbehalte gegenüber der literarischen Gestaltung. Die Akteure diesund jenseits des Röstigrabens entstammen so unterschiedlichen Milieus, dass Zwischentöne kaum Platz finden, dafür jedoch das Klischee bedrohlich nahe rückt. Die Schönen und die Reichen am Lac Léman gleichen in ihrer Lebensart jenen aus der Regenbogenpresse. Es toben jedoch die Leidenschaften sowohl bei den Romands als auch bei den Deutschschweizern. Aber ist es nötig, ihre sexuellen Aktionen detailliert zu beschreiben und die Orgasmen mit «Kernfusionen» zu vergleichen, zumal es sich um das Liebesleben in vergangenen, schambehafteteren Zeiten handelt? Vitalität und Intelligenz versprühen indessen etliche Frauengestalten, welche die traditionellen weiblichen Muster über Bord werfen, während die Männer oft nicht ihrem inneren Drang folgen können. Statt eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen, übernehmen sie widerwillig das väterliche Finanzinstitut. Dieses Dilemma zeichnet Vogel glaubwürdig nach. Ebenso entwirft er kenntnisreich den zeithistorischen Hintergrund mit den Auswirkungen auf seine Figuren, unter denen sich auch ein SS- Obersturmbannführer aus dem Berner Oberland findet. Bedenkenswert sind schliesslich auch die Überlegungen des alten Henri Corbaz über die Suche nach dem Glück, nach dem Gelingen eines Lebens. Beatrice EichmannLeutenegger Artur K. Vogel: «Gnadenhochzeit». Eine Familiensaga aus der Schweiz, Roman. Cameo-Verlag: Bern 2022, 340 Seiten, 19.90 Fr. Eine Familie voller Tabus und Eskapaden Schweizer Saga Die Vergangenheit wird lebendig, als ein Familienclan in Artur K. Vogels Roman «Gnadenhochzeit» zusammenkommt. Zuerst wirkte sie noch etwas distanziert, doch schon bald hatte Lakecia Benjamin alle um den Finger gewickelt. Foto: pd/foto-graf.ch

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